Bilanz: Zehn Jahre Hartz-Reformen

Düsseldorf – Deutschland galt um die Jahrtausendwende wegen seiner Wachstumsschwäche und seiner hohen Arbeitslosigkeit noch als „kranker Mann Europas“. Mit den Hartz-Gesetzen begann die Bundesregierung dann vor zehn Jahren den europaweit weitreichendsten Umbau der Arbeitsmarktpolitik. Die Welt bewundert heute das deutsche „Jobwunder“. Ob sich aber Beschäftigung und Arbeitslosigkeit seit 2006 wegen oder trotz der – vielkritisierten – Reformen so günstig entwickelt haben und welche anderen Faktoren eine Rolle spielten, bleibt offen. Das stellt Prof. Dr. Matthias Knuth vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen (UDE) fest.

Die Widersprüche der ursprünglichen Reformen haben inzwischen weitere Schritte ausgelöst, vielfach wurde nachgebessert. „Ein Vorher-Nachher-Vergleich ist mangels entsprechender Daten für die Zeit vorher schwierig“, so der IAQ-Arbeitsmarktforscher. Vor allem kann kaum beurteilt werden, ob die Arbeitsvermittlung leistungsfähiger und besser geworden ist. Er blickt deshalb auf die damals genannten Reformziele:

Das Versprechen, dass alle Arbeitslosen ‘Dienstleistungen aus einer Hand‘‚ erhalten sollten, konnte nicht eingelöst werden. Die öffentlichen ‘Dienstleistungen am Arbeitsmarkt‘ sind zersplittert: Arbeitslosengeld gibt es bei den Arbeitsagenturen, Arbeitslosengeld II bei den Jobcentern, die von den Kommunen betrieben werden oder mit ihnen zusammenarbeiten. Die Steuerung der Jobcenter ist dadurch extrem komplex. Knuth: „Für diese Probleme gibt es keine organisatorisch wirklich überzeugende Lösung; wir müssen weiter mit einem unvollkommenen und störanfälligen System leben. Das ist sicherlich immer noch besser als die ansonsten drohende Auflösung der Jobcenter.“

Die Arbeitsabläufe in den Agenturen und Jobcentern wurden modernisiert: Terminmanagement ersetzt heute die Warteschlangen auf den Fluren. „Die Kehrseite ist, dass Betreuer schwieriger zu erreichen sind. Dienstleistungen wie Beratung und Unterstützung bei der Arbeitssuche wurden erst mit großer zeitlicher Verzögerung durch Modellversuche und Sonderprogramme verbessert“, so der Wissenschaftler. „Ein Kernproblem bleibt: Es gibt zu wenig Personal.“

Nach den Reformen haben laut Knuth zwar mehr Arbeitslose eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden, und die Quoten haben sich wieder der Konjunktur angepasst. Allerdings fanden im Wirtschaftsaufschwung vor allem die versicherten Arbeitslosen einen neuen Job, ALG II-Bezieher und insbesondere Langzeitarbeitslose wurden seltener „mitgenommen“.

Abgesichert ist derzeit aber weniger als jeder fünfte Arbeitslose, die übrigen erhalten Leistungen, wenn sie nachgewiesen haben, dass sie bedürftig sind, oder eben nichts, weil sie nicht als mittellos gelten. Damit hat auch die Angst vor Arbeitslosigkeit zugenommen, beschreibt Knuth: „Versicherte Arbeitslose nehmen rascher Arbeit auf, um nicht in Hartz IV abzurutschen. Beschäftigte machen größere Zugeständnisse, um ihre Stelle zu behalten, und trauen sich kaum, etwas Neues zu suchen. Viele sind mit ihrer Arbeit nicht zufrieden, der psychische Stress macht häufiger krank.“ Auch die Beschäftigungsbedingungen verschlechterten sich; Minijobs und Leiharbeit erhielten einen Schub, als sie im Zuge der Hartz-Reformen neu geregelt wurden. Der Niedriglohnsektor wuchs – wobei allerdings die Anfänge bereits vor den Hartz-Reformen zu suchen sind.

„Dass arbeitsmarktpolitische Reformen vor zehn Jahren dringend notwendig waren, ist unbestreitbar“, so Knuths Fazit. Man hätte sich jedoch viele Schwierigkeiten erspart, wenn man die Arbeitslosenhilfe nicht abgeschafft, sondern so reformiert hätte, dass erwerbsfähige Bezieher von Sozialhilfe in die Arbeitslosenhilfe hätten aufgenommen werden können. Das „Fördern und Fordern“ hätte dann einheitlich für alle Arbeitslosen von der Bundesagentur für Arbeit umgesetzt werden können. Und man hätte schon damals daran denken sollen, eine Untergrenze für die Löhne einzuziehen – wenn schon nicht als allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn, wofür die Diskussion damals wohl noch nicht reif war, dann wenigstens als Untergrenze der Zumutbarkeit für das „Fordern“.

Foto: Agentur für Arbeit

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